Ein bisschen mehr Connewitz, bitte!

Das, was gerade in diesem Land passiert, macht mich fassungslos, müde, traurig, wütend und ekelt mich an.

Ich weiß gar nicht mehr, wo ich anfangen soll. Also beginne ich mit einer Geschichte; der Geschichte meines Vaters. Er ist vor über 50 Jahren aus dem Iran nach Deutschland gekommen, nicht geflüchtet zwar, doch hat er seine geliebte Heimat hinter sich gelassen, oder auch lassen müssen, weil ihm die dortige politische Realität nicht das Leben in Freiheit erlaubt hat, das er gerne haben wollte. Unter Freiheit verstand er unter anderem Bildung, Bildung und noch mehr Bildung. Er kam also nach Deutschland, nach Kiel zuerst, eine Stadt, von der er bis zu seinem Tod geschwärmt hat, obwohl er wohl schon damals mit den selben dummen, dummen Menschen und Vorurteilen zu kämpfen hatte, die heute wieder zuhauf aus ihren dunklen, braunen Löchern gekrochen kommen.

Er ist geblieben, nicht in Kiel zwar, aber in Deutschland, hat studiert und promoviert, in die Staatskassen eingezahlt,  all seine Kraft und Mühe in dieses verdammte Land gesteckt, bis zu seinem – im wahrsten Sinne des Wortes – letzten Tag, den er auf dieser Welt verbringen durfte. Er hat sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit engagiert, sich tagein, tagaus dem Schicksal höchst traumatisierter, minderjähriger Flüchtlinge aus Afghanistan gewidmet – und er hätte sein letztes Hemd für sie geopfert. Weil er wusste, was sie durchgemacht hatten? Wohl kaum. Sondern weil er Hoffnung hatte, Hoffnung in dieses Land, das sich gerade aber präsentiert wie ein widerliches Stück Scheiße. Weil er wollte, dass all jene, die vor Krieg und Verderben aus ihrer Heimat fliehen müssen, eine ähnliche Chance auf Bildung und schlichtweg auf ein freies, würdevolles Leben haben, wie er.

Ich bin fast schon froh, dass er nicht mehr sehen kann und miterleben muss, wie sich die Situation in den vergangenen Monaten entwickelt hat. Ich bin froh, dass er nicht in der Zeitung lesen muss, dass x-beliebige Arschlöcher Frauen und Kinder in Berliner S-Bahnen anpinkeln. Dass Nacht für Nacht Flüchtlingsheime und Notunterkünfte brennen, Passanten beleidigt und angegriffen werden und dass die Regierung dem Ganzen stillschweigend zusieht.

Wenn ich mit meiner iranischen Verwandtschaft spreche, dann blicke ich in ratlose Gesichter. Ob ich denn keine Angst habe, weiter in Deutschland, geschweige denn in Sachsen zu leben, wollen sie von mir wissen. Und ich? Ich blicke genauso ratlos zurück. Man mag über das Bild, das in den  internationalen Medien transportiert wird, streiten. Aber nach dieser Frage musste ich schlucken.

Noch etwas anderes: Ich kann mich an ein leidiges Thema aus Schulzeiten erinnern. Immer, wenn es hieß: „Heute üben wir, eine Diskussion zu führen“, dann standen zur Debatte a)  „Todesstrafe: dafür oder dagegen?“  und b) „Müssen wir uns noch für das rechtfertigen, was im 3. Reich geschehen ist?“ Wie ich sie gehasst habe, diese immerwährenden Debatten. Ich bin 1986 geboren. Meine Generation hat wirklich rein gar nichts mehr mit der braunen Scheiße von damals am Hut, eigentlich. Ich hatte nicht einmal Großeltern, die mir hätten von dieser Zeit erzählen können. Und jetzt, wie sieht das Ganze jetzt aus? Sind jetzt noch immer alle der Meinung, dass die Pflicht erfüllt und die deutsche Geschichte aufgearbeitet ist? Wohl kaum. Es ist unsere verdammte Pflicht auf die Straße zu gehen und der Welt zu zeigen, dass all die kahlgeschorenen Köpfe, die im Fernsehen zu sehen sind, trotzdem die Minderheit sind. Fälle wie jener aus dem Leipziger Stadtteil Connewitz in dieser Woche dürfen keine Einzelfälle mehr bleiben. Flüchtlinge, die dort in einer Turnhalle untergebracht sind, sollten nach Heidenau gebracht werden. Daraufhin haben sich etwa 1000 Menschen stark gemacht, sind auf die Straße gegangen und haben verhindert, dass der Bus nach Heidenau abfahren konnte.

Ich wünsche mir mehr Connewitz in Sachsen, in Deutschland, Europa und der Welt. Das klingt pathetisch, ich weiß. Aber ich mag Pathos. Ich wünsche mir, dass mein Vater, von wo aus immer er sich dieses Schlamassel gerade mit ansehen muss, stolz auf das Land sein kann, in dem er die letzten 50 Jahre seines Lebens verbracht hat. Ich wünsche mir mehr Aufklärung und mehr Verständnis, einfach ein Grundverständnis von Menschlichkeit. Ich wünsche mir, nicht mehr brechen zu müssen, sobald ich Zeitung lese, fernsehe oder Twitter öffne. Ich hab keine Lust mehr, jeden Tag mit einer solchen Scheiße zu konfrontiert zu  werden, wo wir doch in einem Land leben, in dem wir doch eigentlich alles in unsere verwöhnten Ärsche geschoben bekommen.

Ein bisschen mehr Connewitz, bitte!